Wie lässt sich noch schreiben? Sozialistischer Realismus heute
Das ist, was alles verändert hat: dass nicht die Normalität, sondern die Abnormalität die Regel ist; dass nicht die Regel, sondern die Ausnahme der Normalfall ist; dass nicht die Balance, sondern der Kipppunkt zum Ist-Zustand wurde. Diese Identität von Sein und Nichtsein weist hin auf fortgesetztes Schwinden: Artensterben als Alltag – alltägliche Dezimierung der Welt. Alles steht Kopf, weil wir geköpft durch die Welt berserkern. Wir? Ausgerechnet neben der Spur zu sein, weit rechts im Straßengraben zu liegen, zeichnet die bürgerliche Mitte unserer Tage aus. Die Perversion hat System, heißt das, oder: Dieses System ist Perversion. Das macht sprachlos. Und trotzdem haben wir zu schreiben. Weil wir etwas tun müssen.
Bloß wie? Wie schreiben, ohne zu verschweigen, worüber zu sprechen wäre? Wie diese Realität einholen? Denn die ist längst surreal geworden. Die Kipppunkte sind inzwischen Kippstrecken – sind Streckbanken, auf denen die Gegenwart gezogen wird in Längen, die nie zu sich selbst mehr zurückreichen. Die Vergangenheit streicht weiter die Zukunft; ihre Katastrophe kommt in Raten; erst prognostisch ist die Jetztzeit zu ermitteln. Wir müssen also wie Kassandra verfahren. Deren Prophezeiung betrifft das Gewesene, dessen Wirkungen noch nicht bei uns angelangt sind: Nicht erst das Kommende bringt uns die Krise, sondern Geschehenes; zwischen Ursache und Wirkung vergehen mitunter Dekaden, Hektoden. Zu beschreiben wäre also, wie das Fundament aus dem Leim geht und wie der Horizont selbst aus dem Lot ist – rein beschreibend, ganz ohne Moralisieren. Das gute Gewissen wurde seinerseits zur Ware verramscht: Die allseits externalisierten Kosten haben wir uns in moralischer Ökonomie vermarktet; deren Ablasshandel reicht vom ethischen Konsumieren zur Monetarisierung der Natur. Wie wir unsere Produktionsstätten in Schwellenländer outsourcen, so sourcen wir die eigene Verantwortung an die niederen Klassen im eigenen Land aus. Neofeudal ist das Klassenbewusstsein der bürgerlichen Mitte, wenn der Kapitalismus sich seinem Ende nähert – oder doch nur, vollautomatisiert, unserem Ende?
Ohne Theorie keine Imagination
Womit die Würfel gefallen wären. Beziehungsweise das Wort: Kapitalismus. Und das hierzulande! Wo es keine Worte geben darf für die Elefanten im Raum. Und Begriffe schon gar nicht. Dabei ist »Kapitalismus« bloß dann eine Worthülse, wenn wir der Theorie ermangeln. Womit sich uns die Frage stellen muss, wie unsere Literatur theorieaffin werden kann. Denn genau darum geht es im Kunstschaffen: Es braucht Imagination, um nicht vor der Realität die Augen zu verschließen. Ohne Theorie jedoch ist Imagination nicht länger denkbar. Die beiden sind verschränkt, seit das real Abstrakte unserer Gesellschaft im Schein des Unvermittelten zensiert wird. Weder das spektakuläre Bild, heißt das, noch die zeitlose Momentaufnahme vermögen es, die Kettenreaktionen verstehend einzufangen, die sich um uns in Zeit und Raum auffächern; weder die fesselnde Erzählung noch der genial gewobene Plot reicht hin zur multiplen Krise, die uns alle in sich verstrickt bis zum Ersticken.
»Wir brauchen Gedichte, die aufklären, Romane, die objektiv werden, Dramen, die Utopie wagen.«
Was wir vielmehr brauchen, ist theorieaffine Literatur, um nicht die Augen zu verschließen und blind zu reproduzieren, was wir nicht sehen wollen. Der heute so modische, nur umgedrehte Antagonismus Leib gegen Vernunft, Natur gegen Kultur oder Ding gegen Mensch hilft am wenigsten weiter, wenn es darum geht, Leib, Natur und Dingwelten zu retten. Vielmehr brauchen wir eine Vernunft, die vernimmt, ein Gefühl, das versteht, und eine Intelligenz, die zum Mitgefühl fähig ist. Zur Sprengung eines Realitätsprinzips, das sich dem realpolitisch Surrealen verschrieben hat, brauchen wir einen Realismus, der übers Bestehende hinausgeht und ein Darüberhinaus, das realistisch ist. Kurz, wir brauchen – trauen wir es uns – einen neuen sozialistischen Realismus, einen für heute, einen, der (statt arbeitsteiliger Gattungsreinheit) Hybrid und (statt Binarisierung der Welt) Dialektik wird.
Solchen Realismus brauchen wir schon jenseits der kapitalistischen Einhegung unserer Fantasie. Auch Wissenschaft und Kunst müssen darin wieder eine Liaison eingehen: Wir brauchen Gedichte, die aufklären, Romane, die objektiv werden, Dramen, die Utopie wagen. Ein Gedicht müsste die Dichtheit unseres Zusammenseins einfangen wie Licht am Ende einer Lupe, ein Roman so etwas wie soziologische Imagination sein, die Wirklichkeit freilegt, ein Drama noch das Sprachlose, Materielle, Naturbleibende eintragen in unser Bewusstsein – ohne es dafür ausreißen, präparieren, zurechtstutzen zu müssen. Wir brauchen Figuren, die die Gestalt struktureller Gewalt abpausen, ohne defätistisch ins Ausweglose zu weisen, und wir brauchen Handlungen, die zum Handeln animieren ohne Anti-Intellektualismus, die kritisches Denken befördern ohne Rechthaberei, ohne Geniekult, ohne den Schattenriss der vermeintlich Erleuchteten. Kurz, wir brauchen Kunst, die das Künstliche geißelt, ohne zu naturalisieren, was Geschichte geschaffen hat.
Ein Katapult in unsere bessere Möglichkeit
Wenn es der Kapitalismus ist – großes Wort, noch größere Realität –, der all die Krisen bündelt in einem Faden der Parzen, um die Menschheit zu hängen, dann ist ein neuer Realismus nötig, der uns das Realitätsprinzip austreibt und genau darum in die Lage versetzt, die Kipp- in Wendepunkte zum Besseren umzustürzen. Ja, wollen wir Realität bewahren, müssen wir da nicht einen Realismus einführen, der Bewahrung und Wahrheit zusammenschreibt, der Fremdwerdung gegen das bornierte Eingemeindetsein praktiziert und Verfremdung fürs Heimischwerden? So prognostisch es schließlich ist, die Jetztzeit zu ermitteln, so futuristisch wäre eine Versöhnung mit der Vergangenheit, dem Bleibenden, kurz: den Bedingungen unseres Lebens. Nur ein Realismus, der sozialistisch wäre, könnte, statt Realität zu verdoppeln, den herrschenden Irrealis aufsprengen in dessen eigenen Konjunktiv und damit Katapult sein in unsere bessere Möglichkeit: in emphatische Zukunft.
Wir brauchen einen sozialistischen Realismus gegen die kapitalistische Realität schon, weil diese Wirklichkeit alles verwirkt, was nicht ihr eigenes Ebenbild ist – weil kapitalistischer Realismus ein System der Krise ist und bleibt, in dem die Realität selbst zunehmend abgeschafft wird. Ohne Realität aber auch keine Kunst: Sozialistischen Realismus brauchen wir bereits zur Errettung der Möglichkeit von Literatur.