»Die Tätowierung ist zu einer therapeutischen Normalität geworden«

Interview mit Severin Penger

Severin Penger ist Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes und promoviert über Tradition und Gegenwart von Tattoos in Neapel. Entlang des Tattoos haben wir uns mit ihm über politischen Widerstand, Kriminalanthropologie und die latente Therapeutik der Wunde unterhalten. 

[kon]: Inwiefern ist Haut ein Thema für Sie? 
 
S.P.: Als Ethnologe würde ich generell sagen, dass der Haut – als Grenze, aber auch als Kontaktorgan zwischen Individuum und Gesellschaft, dem Innen und Außen – große Bedeutung zukommt. Zudem beschäftige ich mich schon seit Längerem mit Tätowierungen und frage mich, was deren Faszination bzw. Abneigung für viele Menschen ausmacht.  
 
Tätowierte Haut scheint sowohl örtlich als auch zeitlich ubiquitär zu sein. Was sich jedoch verändert, ist die gesellschaftliche Bewertung, Regulierung und somit auch die Häufigkeit und Bedeutungen dieser kulturellen Praktik. Indem ich mir anschaue, wer sich was, wie und warum tätowieren lässt bzw. wer davon ausgeschlossen ist oder dies aus verschiedenen Gründen kritisiert, hoffe ich, etwas über den sich verändernden Zustand einer Gesellschaft sagen zu können.  
 
In Kuba etwa, wo ich 2015 geforscht habe, war diese Praktik vom Staat nicht erwünscht – gleichzeitig gab und gibt es zahlreiche tätowierte Kubanerïnnen. Ihre Motivationen, sich tätowieren zu lassen, reichen von ästhetischer Lust über eine Form der politischen Kritik bis hin zu einem die Jahrhunderte überdauernden afro-kubanischen synkretistisch-religiösen Ritual. Der Umgang mit und die aktive Umgestaltung der eigenen Haut zu einem Kommunikations- und Interaktionsinstrument erlauben so einen spezifischen Blick auf Menschen und ihre Vorstellungen von der Welt. 

[kon]: In Ihrer Forschungsarbeit untersuchen Sie die Einbettung von Tätowierungen in die Geschichte und Traditionen Neapels. Warum gerade Neapel?
 
S.P.: Zum einen gibt es in Italien historische Beispiele von Tätowierungen, wie die Eismumie Ötzi oder christliche Pilger-Tätowierungen. Speziell in Neapel gibt es zudem detaillierte Aufzeichnungen, die über 100 Jahre alt sind und das Tätowieren somit selbst in einen ›traditionellen‹, lokalen Kontext einbetten. Das ist mir so von keiner anderen europäischen Hafenstadt bekannt und erlaubt bedingt, den Wandel und Konstanten dieser Körperpraktik zu untersuchen.  
 
Zum anderen versuche ich über diese Praktik und einen Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen Körper und Stadt, zwischen Hautbildern und gesellschaftlichen Diskursen, etwas über Neapel und den Mittelmeerraum zu sagen. Durch die unterschiedlichen lokalen ästhetischen Erfahrungen, die in globale Prozesse verstrickt sind, hoffe ich, ein vielschichtiges, differenziertes Bild dieser viel zitierten Stadt zu zeichnen. Dabei interessiert mich auch, inwiefern die Tätowierpraktik – im Vergleich zum autoritär-sozialistisch geprägten Kuba – von kapitalistischen Dynamiken eingenommen wird bzw. inwiefern sich darin auch Widerstand gegen eine solche Ideologie äußern kann. 

[kon]: Wie haben sich diese Traditionen verändert? Welche Methoden wenden Sie an, um diesen Wandel nachzuvollziehen?

S.P.: Während die um 1900 beschriebenen Tätowierten, wie im damaligen wissenschaftlichen bzw. kriminalanthropologischen Diskurs und im Jargon üblich, vor allem sogenannte Kriminelle oder Prostituierte waren – wobei es auch damals schon Zweifel an dieser Einteilung gab –, lässt sich die Tätowierung heute kaum mehr auf eine bestimmte Gruppe beschränken. Nach wie vor symbolisieren Tätowierungen bestimmte Wertvorstellungen oder sollen die eigene Identität repräsentieren. So wie sich manche Berufsbilder verändern, verschwinden auch bestimmte Symbole, während sich andere halten. Die Darstellung des Bacchus, bekannt aus Pompeji oder Caravaggios Werken, findet sich so etwa heute auch auf dem Rücken eines Sommeliers wieder. Ein technischer Wandel lässt sich zum Beispiel auch anhand eines Barbier-Tattoos erkennen: Zum traditionellen Rasiermesser und der Schere kommt neu eine elektrische Maschine hinzu.  
 
Trotz bestimmter Konstanten hat sich jedoch meines Erachtens vor allem die gesellschaftliche Sicht auf Tattoos verändert. Vom anrüchigen, ›primitiven‹ Stigma, das man sich ›trotzdem‹ oder ›deswegen‹ stechen lässt, hat es die Tätowierung zum erwünschten Mode-Accessoire oder Zeichen der Singularität auf großen Werbeplakaten oder im Internet geschafft – gleichzeitig wird oft ein ›Bedeutungsverlust‹ beklagt. Dies gilt natürlich nicht nur für Neapel. Insbesondere das Internet hat den Umgang mit den Tattoos verändert und schafft hier neue Möglichkeiten, birgt jedoch auch Gefahren, etwa im Sinne von kommerzieller Manipulation oder neuen sozialen Zwängen. Ich besitze zum Beispiel kein Smartphone, musste mir jedoch zwangsläufig ein Instagram-Profil anlegen, um mit manchen Tätowiererïnnen in Kontakt zu treten. Daran sieht man einen weiteren sich aktuell vollziehenden Wandel. Soziale Medien verändern die Kontaktaufnahme, Reichweite oder zeitliche Dimension der Praktik. Die virtuelle Distanz und Beschleunigung steht dann im Gegensatz zu einem Tätowierhandwerk, das sich durch persönlichen Kontakt, Intimität und unter Umständen auch die lange Dauer einer Sitzung auszeichnet. 
 
Mein methodisches Vorgehen beinhaltet die Recherche von schriftlichen oder visuellen Quellen in Archiven, Museen oder im Internet. Ich führe qualitative Interviews mit Tätowierten und Tätowiererïnnen, besuche verschiedene Studios, dokumentiere die Hautbilder fotografisch und mache das, was sich in der Ethnologie ›teilnehmende Beobachtung‹ nennt. Dabei kommt es auch vor, dass ich mich selbst tätowieren lasse, was jedoch nicht zentral ist.  

[kon]: Sie verknüpfen Tattoos als »schmerz- und dauerhafte Markierung der Haut« mit dem Begriff des »Therapeutischen«. Was hat es damit auf sich? 
 
S.P.: Mir wurde von meinen Gesprächspartnerïnnen häufig das Wort ›Therapie‹ genannt, und ich frage mich, wie ein solcher zeitgemäßer sozialanthropologischer Begriff von Heilbehandlung im Zusammenhang mit Tätowierungen aussehen und so auch die medizinische oder psychologische Sichtweise ergänzen kann. Denn ›Therapie‹ ist in aller Munde, und doch selbst ein ambivalenter Begriff. Andreas Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang z.B. von einem nie dagewesenen Ausmaß einer »durchpsychologisierten Kultur« in der Spätmoderne. Mark Fisher warnte vor der »Privatisierung von Stress« und kritisierte die »therapeutische Idee«, wonach es rein auf das Innere ankäme, was eine weitere Individualisierung gesellschaftlicher Probleme fördere.


»Eine Tätowierung ist kein Allheilmittel, kann aber trotzdem heilend sein« 


Die Tätowierung, potenziell als Marker von Kollektivität und von Singularität, als schmerzhaftes Ritual gesehen, scheint für viele sinnstiftend, ja kontingenzbewältigend zu wirken, was auch mit einem neuen Drang zur Selbstverwirklichung einhergeht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele Ursachen für Leid, Stress, Gewalt etc. in gesellschaftlichen und somit veränderbaren Verhältnissen liegen. Eine Tätowierung ist kein Allheilmittel, kann jedoch, je nach Kontext, heilend sein. Interessant ist, dass schon um 1900 von dem Kriminalanthropologen (und Arzt) Abele de Blasio von Therapie gesprochen wurde, allerdings wollte er die Tätowierten aus der Gesellschaft wegtherapieren, weil sie für ihn als Zeichen einer »psychischen Schwäche«, als Anomalie galten. Ironischerweise hat sich die Tätowierung nicht nur hartnäckig in Neapel (und anderswo) gehalten, sondern wurde allen Bemühungen zum Trotz selbst zu einer Art Normalität, ja sogar mit ›therapeutischer‹ Funktion, was ich heilende Wunden nenne und weiter untersuchen will. 
 
[kon]: Für Sie als Ethnologen steht Feldforschung, also Beobachtungen und Befragungen vor Ort, im ›natürlichen‹ Kontext, im Vordergrund. Mit welchen Menschen haben Sie gesprochen? Gibt es Tattoo-Geschichten aus Neapel, die Ihnen dabei besonders in Erinnerung geblieben sind? 
 
S.P.: Grundsätzlich versuche ich, mit allen zu sprechen, um verschiedene Perspektiven zu verstehen. Darunter sind Gläubige, Linke, Rechte, Fußballfans, Migrantïnnen oder ehemalige Gefängnisinsassen und viele mehr. Vor der Quarantäne habe ich regelmäßig ein Studio in einem nobleren Teil von Neapel frequentiert, in dem eine interessante Mischung aus Tourist:innen, wenigen, aber doch auch Migrant:innen aus einem benachbarten ›Problemviertel‹ sowie (Exil)-Neapolitanerïnnen aus unterschiedlichen Klassen verkehren. Diese Vielfalt zeigt sich auch an den Stilrichtungen der Tätowiererïnnen. 
 
Kurz vor dem Lockdown hat sich dort ein Krankenpfleger und Freund des Studios aus dem einkommensschwachen Norden der Stadt tätowieren lassen. Über vier Tage hinweg ließ sich der kräftige, bärtige Mann vier neue, teils großflächige Tattoos stechen. Um scheuernde Arbeitskleidung zu vermeiden und genügend Zeit für die Pflege der Wunden zu haben, hatte sich der circa Vierzigjährige extra Urlaub genommen. Im Anschluss erzählte er mir von seiner Arbeit, der absurden Situation im Krankenhaus und fehlenden Handschuhen. Zudem erklärte er, dass er, auch ohne studiert zu haben, an Philosophie interessiert sei und sich selbst als politisch links sehe – jedoch nicht orthodox, sondern seinem eigenen Weg folgend. Seine Brust zierten große, schwarze Flügel, die Schriftzüge »Bestie«, sowie »memento mori«, darunter, auf dem Bauch, fand sich das (italienische) lettering »WILLENSFREIHEIT«. Auf den Rücken ließ er sich das Wort »herrenlos« tätowieren. Ich war beeindruckt von solchen Selbstermächtigungs-Tattoos. Als ich ihn weiter befragte, erzählte er von einem (weiteren) therapeutischen Tattoo: Weil er es schaffte, mit dem Rauchen aufzuhören, hatte er sich einen lateinischen Spruch tätowieren lassen: »Curare ipsum« – heile (dich) selbst. 

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